Treffpunkt ist am Samstag, 20. Juni um 8.00 Uhr früh im Pötzleinsdorfer Schlosspark. Wie jedes Jahr im Juni, findet auch heuer der vom Biosphärenpark Wienerwald Management veranstaltete Tag der Artenvielfalt statt. Normalerweise gibt es für die Bevölkerung auch immer ein großes Fest der Artenvielfalt mit Nacht- und Naturführungen, zahlreichen Infoständen rund um die Themen Natur, Artenvielfalt, Tipps für den eigenen Garten etc., mit dem Mikrotheater des Naturhistorischen Museums - ja sogar mit Konzert und regionalen Köstlichkeiten aus dem Biosphärenpark Wienerwald. Dies alles findet heuer nicht statt – wie so vieles im Jahr 2020 fiel auch die Festveranstaltung den im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie verhängten Maßnahmen zum Opfer.
Aber auf die Artensuche mit zahlreichen ExpertInnen verschiedenster Fachrichtungen sollte trotzdem nicht verzichtet werden: Schon gestern Freitag tummelten sich rund 70 ExpertInnen im Untersuchungsgebiet, um innerhalb von 24 Stunden im zum Biosphärenpark Wienerwald gehörenden Teil des 18. Wiener Gemeindebezirkes – der ein Fläche von rund 247 ha umfasst und rund 39 Prozent der Fläche des Bezirkes ausmacht – möglichst viele Tier-, Pflanzen- und Pilzarten zu finden.
Die Artensuche findet heuer im zum Biosphärenpark Wienerwald gehörenden Teil des 18. Wiener Gemeindebezirkes statt - eine Fläche von rund 247 Hektar.
Die ersten ExpertInnen treffen ein
Mit uns gemeinsam trudeln um 8.00 Uhr langsam die ersten ExpertInnen ein. Jene, die gestern noch nicht dabei waren, holen sich bei der Materialausgabe die Übersichtskarten über das Untersuchungsgebiet, Fundlisten und eine liebevoll, mit Produkten aus dem Biosphärenpark Wienerwald, zusammengestellte Jausenbox. Bevor es losgeht, werden noch kurz Erfahrungen ausgetauscht und berichtet: Wo war man gestern schon unterwegs? Welche Funde wurden gemacht? – man kennt sich im BiologInnen-Kreis. Manche ExpertInnen nehmen schon seit 14 Jahren am Tag der Artenvielfalt teil. Auch beruflich kreuzen sich immer wieder die Wege der teilnehmenden WissenschafterInnen.
Rund 75 ExpertInnen unterschiedlicher Fachrichtungen beteiligen sich ehrenamtlich am Tag der Artenvielfalt 2020!
Auch wir machen uns, gemeinsam mit unserem langjährigen Tag der Artenvielfalt-Fotografen Norbert Novak, auf den Weg. Wir wollen den ExpertInnen bei der Artensuche ein bisschen über die Schulter schauen. Wie läuft eine Artensuche ab? Was haben die WissenschafterInnen dabei Spannendes zu berichten? Welche Artenfunde gibt es zu verzeichnen?
Erste Station: Pötzleinsdorfer Schlosspark-Teich
Als wir losmarschieren weht ein kalter, unangenehmer Wind. Der Himmel ist bedeckt und es sieht nach Regen aus. Die meisten ExpertInnen sind bestens ausgerüstet – Regenjacken, Überhosen, robuste Wanderschuhe. Gleich nach ein paar Metern treffen wir beim östlichen Pötzleinsdorfer Schlosspark Teich auf Michael Duda. Er ist ein so genannter Molluskenforscher, ein Schneckenexperte. Mit einem kleinen Kübel schöpft er Wasser, Erde und Pflanzen aus dem Teich, aber darin befinden sich nur Springfrösche und Kaulquappen. Die kommen auch gleich wieder zurück ins Wasser. Denn er ist auf der Suche nach Wasserschnecken. Er findet ein paar Leerschalen, die er zum Bestimmen mit nach Hause nimmt. „Sie sind sehr klein und lassen sich mit freiem Auge nicht eindeutig zuordnen“, erklärt er uns. Nach ein paar weiteren Versuchen und Fundstücken, die in den Rucksack wandern und erst näher bestimmt werden müssen, macht er sich auf den Weg zu einem anderen Teil des Untersuchungsgebietes.
Michael Duda ist beim östlichen Pötzleinsdorfer Schlosspark auf der Suche nach Wasserschnecken.
Rehe und eine prächtige Wildblume
Und wir machen uns ebenfalls wieder auf die Suche – und zwar nach weiteren ExpertInnen, die mit uns über ihre Arbeit plaudern. Es geht bergauf Richtung Wald, wo uns bei der ehemaligen Badegrotte ein Reh über den Weg läuft. Angeblich keine allzu große Seltenheit im Pötzleinsdorfer Schlosspark, aber trotzdem schön. Ein Stück weiter oben bei der Waldwiese finden wir den Botaniker Jürgen Baldinger. Er zeigt auf eine rosa Wildblume mit langem Stiel - eine Türkenbundlilie (Lilium martagon), oft auch schlicht Türkenbund genannt. Sie ist eine der prächtigsten einheimischen Wildblumen – und in Österreich eine echte Rarität
Botaniker Jürgen Baldinger zeigt uns eine Türkenbundlilie - eine der prächtigsten einheimischen Wildblumen.
Zecken, Hundertfüßer und ein Restposten der Evolution
Obwohl das Wetter immer ungemütlicher wird, die ersten Regentropfen vom Himmel fallen und auch der Wind immer stärker bläst, wollen wir noch ein Stückchen weiter Richtung Bergkamm. Auf dem Weg dahin begegnen wir Nikola Szucsich und Michaela Sonnleitner von der Initiative ABOL (Austrian Barcode of Life). ABOL ist eine überinstitutionelle Initiative zur Erfassung der genetischen Vielfalt aller Tier-, Pflanzen- und Pilz-Arten Österreichs mittels DNA-Barcoding und sieht sich als verbindende Plattform zur Förderung von Biodiversitätsforschung und deren Anwendungen. Die beiden waren auch gestern schon auf Artensuche, genauer gesagt auf der Suche nach Bodentieren, und erzählen uns gutgelaunt von ihren gestrigen unliebsamen Mitbringseln aus dem Pötzleinsdorfer Schlosspark – rund acht Zecken.
Auch sie haben einen tollen Fund gemacht und zeigen auf ein kleines Tier mit vielen winzigen Füßchen: „Ein Scolopender der Gattung Cryptops“, meint Nikola und erläutert nach unserem fragenden Blick weiter „ein so genannter Hundertfüßer. Sie werden bei den Tausendfüßern eingeordnet und stellen nach den Doppelfüßern die zweitgrößte Gruppe der Tausendfüßer dar.“ Als wir schon wieder weiter wollen zeigt Nikola noch auf ein etwa 1 cm großes Insekt, einen Felsspringer. Wer ihn finden will, muss schon genau hinschauen, denn die Tiere sind sehr gut getarnt. Es sind primitive Insekten ohne Flügel. Fachleute betrachten sie als direkte, wenig veränderte Nachkommen der Urahnen von Käfern, Schmetterlingen und praktisch allen anderen modernen Sechsbeinern. Ein Restposten der Evolution, sozusagen.
Nikola Szucsich und Michaela Sonnleitner von der Initiative ABOL finden einen Hundertfüßer im Waldgebiet des Pötzleinsdorfer Schlossparks.
Die Regen liebende Riemenschnecke
Inzwischen schüttet es „wie aus Kübeln“ und schön langsam beginnt sich der Regen seinen Weg durch die Jacke zu bahnen. Wir sind durchnässt und unsere Finger klamm. Wir nehmen uns vor, bei der nächsten Artensuche besser auf unsere Ausrüstung zu achten. Auch das Fotografieren wird schwierig, und die Kamera gilt es ebenfalls vor dem Regen zu schützen. Wir treten unseren Rückzug an und treffen am Rückweg zur Materialausgabe auf Martina Eleveld. Ihr scheint der Regen und die Kälte nichts auszumachen. Sie trägt nur das kurzärmelige, vom Biosphärenpark Wienerwald Management jährlich eigens produzierte orange Tag der Artenvielfalt-T-Shirt, das die teilnehmenden ExpertInnen für BesucherInnen und BewohnerInnen im Untersuchungsgebiet erkennbar machen soll. Sie sucht nach Bodenschnecken und erklärt uns, dass der Boden, trotz des vielen Regens der letzten Tage, gleich unter der Oberfläche noch immer sehr trocken ist. 16 Arten hat sie gemeinsam mit Robert Nordsieck gestern gefunden. Auf ihrer Hand hält sie eine Schnecke mit einem etwa 1 cm großen Häuschen – eine Riemenschnecke (Helicodonta obvoluta), die, wie es scheint, wohlig ihre Fühler in den Regen streckt. Auch ihr scheint der Regen nichts auszumachen.
Die Riemenschnecke streckt wohlig ihre Fühler in den Regen
Keine Bienen weit und breit
Unter der großen, als Naturdenkmal ausgezeichneten Eibe nahe dem Eingang vom Pötzleinsdorfer Schlosspark, hat Martin Streinzer mit seinen zwei Kindern Schutz vor dem Regen gesucht. Er ist jener Forscher, dem letztes Jahr eine kleine Sensation gelang: Er fand in Südkärnten ein Männchen und ein Weibchen der seltenen Art „Unerwartete Hummel“ (Bombus inexspectatus), die in Fachkreisen als ausgestorben galt. Heute hat er weniger Glück – die Bienen und Hummeln, die er mit seinen Kindern suchen wollte, haben sich bei dem Regen in ihre Stöcke zurückgezogen.
Die Bienen und Hummeln haben sich bei dem Regenwetter in ihre Stöcke zurückgezogen.
Friedhöfe als Artenvielfalt-Highlight
Zurück bei der Materialausgabe treffen wir noch auf Wolfgang Adler. Er gilt als wahres Tag der Artenvielfalt-Urgestein, ist er doch seit der ersten Artensuche im Biosphärenpark Wienerwald mit dabei. Das Highlight des diesjährigen Tag der Artenvielfalt ist für ihn die Öffnung der drei Friedhöfe, des Pötzleinsdorfer, des Neustifter und des Gersthofer Friedhofes, für die Artensuche. „Gestern, als das Wetter noch besser war, präsentierten sich die Friedhöfe als Blütenmeer verschiedenster Kleearten – ein wahres Paradies für Bienen und Insekten!“, schwärmt er. „Im Gegensatz zu vielen Privatgärten, mit streng getrimmten Rasen und exotischen Pflanzen, sind diese zwei Friedhöfe ein wahres Naturjuwel!“. Außerdem, berichtet Adler erfreut, zählen zu seinen Fund-Besonderheiten heuer die Grasart Mäuse-Federschwingel (Vulpia myuros) und auch die niedrigen Blühpflanzen Verkannter Schmalkopf-Mohn (Papaver dubium subsp. confine), der Tauben-Storchschnabel (Geranium columbinum) und die Ackerröte (Sherardia sp.).
Ameisen-Tarnung und Fledermaus-Vielfalt
Auch der Naturschutz-Experte Harald Gross von der Wiener Umweltschutzabteilung nimmt sich noch kurz für uns Zeit und berichtet, dass KollegInnen heuer die selten zu findende, etwa 2 mm kleine und zur Familie der Heuschrecken zählende Ameisengrille (Myrmecophilus acervorum) entdeckten. Sie zählt zu einer Gruppe von Insekten, die sich als Ameisen tarnen und dadurch im Ameisen-Verband aufgenommen werden. Interessant fand er auch den Fund der Baumwanzen-Art Potops curvidens, die in Wien erst zum zweiten Mal entdeckt wurde, wie auch elf verschiedene Fledermausarten, die selten zu sehende Gelbhalsmaus (Apodemus flavicollis) und den selten vorkommenden Steinkrebs (Austropotamobius torentium), den ein Kollege im Kräuterbach an der Höhenstraße entdeckte. „Solche Funde machen nur Spezialistinnen und Spezialisten, die genau wissen, wo und mit welchen Methoden sie schauen müssen“, ist er überzeugt. „Die Artensuche ist außerdem natürlich auch immer eine Momentaufnahme. Es ist spannend zu sehen, wie alles in Bewegung und Veränderung ist und wie manche Arten plötzlich an anderen Orten wieder auftauchen, wo man sie nicht vermutet hätte“.
Elf verschiedene Fledermausarten konnten am Tag der Artenvielfalt 2020 gefunden werden! Im Bild wird der Mopsfledermaus eine Kralle rot lackiert, um sie wiederzuerkennen, falls sie den ExpertInnen in der Nacht nochmal ins Netz geht. Der Lack löst sich wieder ab und ist für die Fledermaus unbedenklich.
Ein toller Pilz-Fund
Als eine der letzten ForscherInnen kommt auch die an der Universität Wien am Departement für Botanik und Biodiversitätsforschung tätige Mykologin (Pilzexpertin) Irmgard Greilhuber von ihrer Forschungsexpedition zurück. Durch den trockenen Winter und Frühling gab es insgesamt heuer eher wenige Pilzfunde. Allerdings teilt die Pilzexpertin uns ihre Freude über den Fund des Südlichen Zahn-Kammpilzes (Phlebia nothofagi) mit, der in Österreich bisher nur sieben Mal gefunden wurde und als Lebensraum vor allem dickes Totholz im finalen Zersetzungsstadium benötigt. Den Fund deutet die Expertin durchaus als Zeugnis für einen gesunden Waldbestand im Pötzleinsdorfer Schlosspark. Auch der Borstige Zwerg-Dachpilz (Pluteus hispidulus) wurde in Österreich erst 30 Mal entdeckt und konnte gestern in Pötzleinsdorf nachgewiesen werden.
Im Bild die Spinnen-Kernkeule (Torrubiella arachnophila), die in der ehemaligen Badegrotte im Pötzleinsdorfer Schlosspark von den Forschern Erhard Christian und Otto Moog gefunden wurde. Davon gibt es noch keinen sicheren Nachweis aus Österreich!
Rund 940 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten
Gegen 14.00 Uhr finden sich auch die hartgesottensten ForscherInnen beim Materialausgabe-Standort ein. Es werden noch die letzten Fundlisten abgegeben und in Grüppchen wichtige Entdeckungen besprochen, Erfahrungen ausgetauscht und gemeinsam die letzten Funde bestimmt.
Trotz der widrigen Wetterbedingungen konnten am 14. Tag der Artenvielfalt im Pötzleinsdorfer Schlosspark innerhalb von 24 Stunden von den ExpertInnen rund 940 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten gefunden werden! – wichtige Daten, die für Forschungszwecke und Naturschutzarbeit weiter verwendet werden. Einige Arten werden die ExpertInnen in den nächsten Wochen und Monaten noch im Labor bestimmen, bevor auch diese Funde in die Artenliste des Tag der Artenvielfalt 2020 eingehen können.
Die Presseaussendung vom 21. Juni 2020 zum Tag der Artenvielfalt im Pötzleinsdorfer Schlosspark finden Sie hier.
Der Tag der Artenvielfalt 2020 des Biosphärenpark Wienerwald Managements wird vom Land Wien sowie aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes gefördert.